Erklärung der Teilnehmer*innen der 14. Anarchistischen Buchmesse des Balkans (ABB)
Vom 24. bis 26. Juni 2022 haben sich nach zwei Jahren coronabedingter Pause zahlreiche Kollektive, Initiativen und Einzelpersonen aus der anarchistischen und antiautoritären Bewegung auf der 14. Anarchistischen Buchmesse des Balkans in Cluj/Kolozsvár getroffen. Wir kamen aus verschiedenen Ecken des Balkans und darüber hinaus: aus dem so genannten Bulgarien, Slowenien, Rumänien, Griechenland, Türkei, Kroatien, Ungarn, Serbien und auch aus dem so genannten Litauen, Österreich, Deutschland, Schweiz, Frankreich und Brasilien. Wir sind zusammengekommen, um Ideen und Neuigkeiten aus vergangenen und laufenden Kämpfen auszutauschen und um die Beziehungen, das Vertrauen und die Solidarität untereinander als Genoss*innen zu stärken.
Wir haben viele Themen diskutiert, ein paar Schlüsse gezogen aber auch viele Fragen offen gelassen.
Wir haben die Buchmesse mit Diskussionen über Internationalismus und gegenseitige Hilfe eröffnet. Wir haben uns daran erinnert, dass die Anarchistische Buchmesse des Balkans Teil einer Tradition grenzüberschreitender internationaler Organisierungsbemühungen ist, die die anarchistische Bewegung von ihrer Entstehung an auszeichnet. Es wurden Parallelen zwischen den Unterdrückungssystemen in Lateinamerika und im Balkan gezogen. Beide Regionen gehören der Peripherie des globalen kapitalistischen Systems an und sind von einer Geschichte der Ausbeutung gezeichnet. Wir haben wieder einmal festgestellt, dass eine gemeinsame Analyse und Praxis nicht möglich ist, wenn sie nicht auf direkten persönlichen Beziehungen fußt, für die es wiederum gemeinsame physische Orte braucht. Einer dieser Orte ist die Anarchistische Buchmesse des Balkans. Wir sind weiterhin der Auffassung, dass eine wirkungsvolle internationale Solidarität darauf abzielen muss, die Zentren der kapitalistischen und staatlichen Herrschaft in den verschiedenen Regionen herauszufordern und zu bekämpfen, und sich nicht nur auf einige wenige globale Supermächte konzentrieren sollte.
Der Krieg wirft seine Schatten auf den Kontinent. Der Balkan ist noch immer von den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien geprägt. Anknüpfend an diese schmerzhaften Erfahrungen müssen wir feststellen, dass die aktuelle Eskalation des Kriegs in der Ukraine wieder einmal zeigt, dass die staatliche und kapitalistische Herrschaft weltweit dazu bereit ist, organisiert und unter Einsatz aller zur Verfügung stehender Technologien Gewalt auszuüben, Massenmorde zu begehen und ganze Regionen systematisch zu zerstören. Der Krieg in der Ukraine ist kein Einzelfall, sondern der aktuellste in einer Serie von Kriegen, die im Wettkampf um globale Vorherrschaft geführt werden. Diese Kriege sind Mittel, um die kapitalistische Herrschaft über Menschen, Ressourcen und Territorien aufrechtzuerhalten und auszuweiten. Als Anarchist*innen und Antiautoritäre opponieren wir gegen alle Kriege und militärischen Projekte. Wir plädieren für den aktiven Widerstand gegen den Krieg und gegen alles, was ihn befördert, von Nationalismus und religiösem Extremismus bis hin zum Patriarchat und zur Vorstellung, dass unbegrenztes Wirtschaftswachstum der Zweck gesellschaftlichen Lebens sein müsse.
Wir erklären unsere ungeteilte Solidarität mit all denen, die unter den Zerstörungskräften des Kriegs zu leiden haben. Wir erkennen die außerordentlich schwierige Lage unserer Gesinnungsfreund*innen in der Ukraine an, die um ihr Überleben kämpfen, sowie derer in Russland und in Belarus, die aufgrund ihres Widerstands gegen den Krieg extremen Repressalien ausgesetzt sind. In unseren Diskussionen kamen wir immer wieder auf eine Reihe von Fragen, auf die viele verschiedene praktische Antworten zu finden sind: Wie können wir uns Krieg und Militarisierung in unseren eigenen Kontexten widersetzen? Wie kann gegenseitige Hilfe und Solidarität für Betroffene von Krieg aussehen? Wie können wir es vermeiden, dass unsere Bemühungen benutzt werden, um die Fortsetzung des Kriegs und die Durchsetzung kapitalistischer Interessen zu legitimieren? Vor allem müssen wir dem Spektakel des Kriegs widerstehen, in dem komplexe Zusammenhänge vereinfacht werden, um unsere Zustimmung zu den Entscheidungen der Eliten zu gewinnen, die ganze Staaten, Armeen und Rüstungsindustrien lenken. Stattdessen sollten wir uns bemühen, die Funktion von Krieg im kapitalistischen System und die Gründe für jeden einzelnen Krieg zu begreifen, um nicht Gefahr zu laufen, uns der Kriegsmaschinerie zu unterwerfen. In diesem Kontext ist der Aufbau sozialer Bewegungen von unten unerlässlich.
Eine weitere Reihe von Diskussionen widmete sich der politischen Ebene von Queerness als einer anti-normativen und antiautoritären Praxis. Wir haben dabei die Wichtigkeit einer fortlaufenden Entwicklung anarcha-feministischer und queerer Praktiken auf dem Balkan betont und einige konkrete Handlungsfelder bestimmt:
1. Wir müssen in unserer politischen Arbeit über repressive Strukturen hinwegkommen und uns bewusst dem Angriff auf das Patriarchat widmen, auch wenn wir in unseren eigenen anarchistischen und antiautoritären Bewegungen darauf stoßen. Dafür müssen wir ehrlich miteinander umgehen, Bewusstsein für geschlechtsspezifische Unterdrückung schaffen, die unser Leben weiterhin prägt, und uns gleichzeitig bemühen, Gemeinschaft und Respekt jenseits der gesellschaftlich auferlegten oder selbstauferlegten Rollenbilder herzustellen. Es wurde betont, dass gegenseitige Fürsorge unerlässlich ist, um diese Ziele zu erreichen. Wir freuen uns, dass die ABB dahingehend ein positives Beispiel darstellt.
2. Wir erkennen an, dass es einen Mangel an queer anarcha-feministischer Literatur auf dem Balkan gibt und begreifen es als ein Problem das unser unmittelbares Engagement verlangt.
3. Wir möchten betonen, dass in vielen Gegenden die Coronakrise, der aktuelle Krieg und der Aufstieg neuer faschistischer Kräfte im Zusammenhang mit der Einführung repressiver Gesetze zu sehen sind, die besonders Frauen und queere Menschen treffen. Es ist abzusehen, dass der umfangreiche Angriff auf die Autonomie der Frauen und die Kontrolle über ihre Körper weitergehen wird.
Wir können beobachten, wie stärker werdende autoritärere Kräfte in Gesellschaft und Politik eine Männlichkeit neu erfinden, die den Erfordernissen der Kriegsmaschinerie entspricht. Der Kampf gegen das Patriarchat ist deshalb auch ein Kampf gegen Krieg und Militarisierung. Der neue Krieg ist jedoch nicht die einzige Krise, die der Repatriarchalisierung unserer Gesellschaften Vorschub leistet. Deshalb muss der Kampf gegen die Angriffe auf unsere Körper und unsere Reproduktionsfähigkeit einen zentralen Platz in unserer politischen Arbeit einnehmen. Wir sind überzeugt, dass die Werkzeuge und Ansätze, die unsere anarcha-feministischen Genoss*innen entwickelt haben, für alle anarchistischen und anti-autoritären Strömungen nützlich und wertvoll sind. Es bedarf weiterer Ressourcen zur Stärkung der anarcha-feministischen und queeren Perspektive auf dem Balkan und der fortlaufenden Reflektion darüber, was es bedeutet, sichere Räume für alle zu schaffen.
Die Corona-Pandemie hat bestehende Klassenunterschiede zum Vorschein gebracht und weiter verstärkt. Sie hat unsere Bewegung in eine sehr herausfordernde Situation gebracht. Es wurde notwendig, neue Wege des Widerstandes zu finden. Uns ist klar, dass wir das nicht immer geschafft haben. Viele kennen die Gefühle der Überforderung und Orientierungslosigkeit sowie interne Konflikte, dennoch gab es viele positive Lösungen, die als Inspiration für die Zukunft dienen können. Der Ausnahmezustand hat sich normalisiert und daher ist es notwendig, sich dem zu widersetzen, was dieser konkret bedeutet: das Monopol des Staates über den öffentlichen Diskurs und politisches Handeln sowie extremer Individualismus. Uns wurde deutlich, dass wir die Deutung des Geschehens nicht allein Spezialist*innen und Expert*innen überlassen dürfen. Stattdessen wollen wir auch in unvorhersehbaren Situationen die Verantwortung für unsere eigenen Entscheidungen selbst tragen und uns auf politische Art und Weise, in Echtzeit und gemeinsam, Wissen erarbeiten.
Weitere Diskussionen drehten sich um die anhaltende Vertreibung von Menschen aus Regionen, die von der Festung Europa mitzerstört werden. Wir wollen unsere Solidaritätsnetzwerke erweitern, um Menschen auf ihren Wegen und der Flucht zu unterstützen und um ein Gegengewicht zu den rassistischen und kolonialen Einstellungen und Praktiken herzustellen, die in all unseren Kontexten vorherrschen. Mit der ständig zunehmenden Kontrolle und Überwachungen der Grenzen sind Geflüchtete gewaltsamen Pushbacks, Inhaftierung, Leiden und Tod ausgesetzt. Gleichzeitig wird solidarische Unterstützung kriminalisiert. Wir lehne alle Grenzen ab und sprechen uns für eine Welt aus, in der sich alle Menschen frei bewegen können. Unter dem Deckmantel diplomatischer Kritik und von Verordnungen wie den Dublin-Bestimmungen wird in der breiten Gesellschaft das Gefühl erzeugt, das etwas getan würde. Tatsächlich werden so nur die unmenschlichen Maßnahmen der Staaten weiter legitimiert, mit denen Menschen aus bestimmten Regionen die Entscheidung darüber genommen wird, wohin sie gehen möchten. Außerdem verurteilen wir zutiefst die Ausnutzung menschliches Leids für die Bereitstellung billiger Arbeitskräfte für die kapitalistische Maschine deren integraler Bestandteil das brutale rassistische Grenzregime ist.
Es gab darüber hinaus Diskussionen über die Prozesse der neoliberalen Transformation, Privatisierung, Gentrifizierung und Touristifizierung des ländlichen Raums. Diese Prozesse sehen wir als Teil der kapitalistischen Landnahme im ländlichen Raum und als eine weitere Strategie der Profiterzeugung durch die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur. Wir lehnen die romantischen Diskurse und eskapistischen Fantasien der urbanen oberen und mittleren Schichten ab und wollen uns stattdessen mit den Kämpfen im ländlichen Raum vernetzen und uns in diese einbringen. Dies eröffnet uns neue praktische Experimentiermöglichkeiten in Sachen Nahrungsmittelproduktion, wirkt der Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft entgegen und kann dazu beitragen, eine Bewegung aufzubauen, die nicht auf den städtischen Raum begrenzt ist. Dieses Vorhaben beinhaltet die Zurückgewinnung des Zugangs zu Land, nicht im Sinne einer weiteren kapitalistischen Landnahme, sondern darüber, Gemeingüter zu schaffen und eine nachhaltige Bewegung zu gestalten in der Respekt gegenüber Umwelt und allen Spezien gelebt wird. Uns ist bewusst, dass diese Arbeit gleichzeitig reproduktive Arbeit ist und unsere Kämpfe gegen Patriarchat, Rassismus und andere Unterdrückungsformen integrale Bestandteile sein müssen. Der Klimawandel verschlechtert unsere (Über-)Lebensbedingungen und uns ist klar, dass im aktuellen kapitalistischen System gerade diejenigen am meisten unter dessen Auswirkungen zu leiden haben, die bereits jetzt in vielfacher Hinsicht ausgebeutet werden.
Wir haben am Ende der Buchmesse beschlossen, die nächste Anarchistische Buchmesse des Balkans Ende Juni 2023 in Ljubljana, Slowenien, auszutragen.
Über drei Tage haben wir mit der Anarchistischen Buchmesse des Balkans einen Ort des Zuhörens, des Respekts und der gegenseitigen Hilfe geschaffen. Das war nur durch die großen Bemühungen der Orga-Gruppe vor Ort in Cluj möglich. Wir möchten ihr von ganzem Herzen danken! Angesichts immer neuer kapitalistischer Krisen sind wir überzeugt, dass die Vertrauensbeziehungen innerhalb der breiten anarchistischen und antiautoritären Bewegungen im Zentrum unserer politischen Arbeit stehen muss. In den schwierigen Kämpfen, die uns noch bevorstehen, ist das, was uns zusammenbringt, wichtiger als das, was uns trennt.
Keine Nation kann uns einen, kein Krieg kann uns spalten!
Gegen jede Regierung und jeden Staat!
Der Kampf gegen das Patriarchat ist ein Kampf gegen Krieg und Militarismus!
Machen wir die Krise des Kapitals zu einer Krise für die Herrschenden!
Wir sind unendlich wütend über die Ermordung von weiteren 27 Menschen durch die Polizei in Melilla!
Die Teilnehmer*innen der 14. Anarchistischen Buchmesse des Balkans in Cluj/Kolozsvár
26th June 2022